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Dieser Artikel erschien im K-PROFI, Ausgabe 5/2022 und wurde verfasst von:
Dipl.-Ing. Markus Lüling, Chefredakteur K-PROFI
Wie Wirthwein den CO2-Footprint von Kunststoffteilen zu ermitteln und zu optimieren versucht
Den CO2-Footprint eines Kunststoffprodukts zu ermitteln, ist nicht einfach, zumal der größte Unsicherheitsfaktor von außen in den Verarbeiterbetrieb gelangt. Die Wirthwein-Gruppe gibt Einblick in ihren Ansatz, Transparenz in den Footprint zu bringen, und legt Ergebnisse und Überlegungen offen.
Als Familienunternehmen mit 22 Produktionsstandorten in sechs Ländern, 3.500 Mitarbeitenden, 400 Mio. EUR Umsatz und mehreren hundert Spritzgießmaschinen beliefert die Wirthwein- Gruppe mit Hauptsitz in Creglingen Kunden in den Branchen Automotive, Bahn, Elektroindustrie, Hausgeräte, Medizintechnik und Innenausbau. „Den größten Kostenanteil in unserer Produktion hat das Material – im Durchschnitt 60 Prozent“, berichtet Vorstandssprecher Marcus Wirthwein, „zweitwichtigste Größe ist, nach den Personalkosten der Stromverbrauch, danach kommen alle anderen Faktoren.“
Ähnlich verhält es sich beim CO2-Footprint. „Etwa 80 Prozent Anteil an den Emissionen hat der Kunststoff, den wir verarbeiten“, analysiert Holm Riepenhausen, Vorstand Technik, „rund 10 Prozent entfallen auf die engere Kunststoffverarbeitung, die Betriebstechnik wie Druckluft, Rückkühlung und Beleuchtung sowie und 10 Prozent auf übrige Aufgaben wie Logistik, IT und Administration.“ Übliche Erfolgskennziffern aus Emissionsreduktion/Umsatz (CARR-Ranking) und Energieaufwand/verarbeitete Materialmenge (M-SEC, P-SEC, S-SEC) beschreiben auch bei Wirthwein die Bemühungen um eine möglichst energieeffiziente und CO2-arme Produktion, unterliegen aber vielen äußeren Faktoren, die die Aussagekraft der Werte in Frage stellen.
Für 90 Prozent der Werkstoffe fehlt der CO2-Footprint
„Angesichts des Materialanteils von 80 % am CO2-Footprint liegt der eigentliche Hebel zur Senkung des CO2-Footprints in der Entscheidung zu Material und Verfahren. In einer Tier-2- oder Tier-3-Position habe ich als Verarbeiter nur bedingt Einfluss auf das Produktdesign. Und darauf, ob ich ein Schäumverfahren einsetze und damit meinen Materialeinsatz reduziere oder durch Sandwich-Technologie Rezyklat in den Kern fahren kann; oder eben darauf, ob ich Material mit besserem CO2-Footprint einbringe. Ich kann beraten, aber ich kann das Bauteilkonzept nicht bestimmen“, bedauert Holm Riepenhausen, „der Schlüssel zu einer guten Effizienz oder CO2-Bilanz liegt woanders; In einer Produkt- und Materialauslegung, die im Wesentlichen von unseren Kunden bestimmt wird.“ Besonders hinderlich dabei ist die noch geringe Transparenz auf der Werkstoffseite. „Für mehr als 90 Prozent der eingesetzten Name Grades bekommen wir derzeit von den Kunststofferzeugern keine CO2-Werte“, beklagt der Technik-Vorstand, „so bringt die größte Stellschraube die größte Unsicherheit mit sich.“
Sind Alternativen zu Bestandsmaterialien ein Ansatz? Holm Riepenhausen: „So weit CO2-Werte von Name Grades bekannt sind, kann man Alternativen benennen. In der groben Abstufung Polycarbonat (PC), Polyamid (PA), Polypropylen (PP) kann man versuchen, mit dem Material zu arbeiten, dessen Energiebedarf in der Herstellung am geringsten ist – in eher technischen Anwendungen wäre das PP. Wir sind auch interessiert am Thema Biopolymere, weil auch das deutliche Vorteile bringen würde.“
Größte Einsparungen bei den höchsten spezifischen Energieverbräuchen erwartet
Die beiden 10-%-Blöcke ihres CO2-Footprints hat Wirthwein umso genauer durchleuchtet. So erweisen sich aus Emissionsgesichtspunkten die vielen kundennahen Produktionsstandorte als Wettbewerbsvorteil. Ein seit vielen Jahren genutztes Energiemanagementsystem hat bereits im Detail Transparenz geschaffen. „Alle Verbraucher werden dezidiert angegangen“, sagt Holm Riepenhausen.
Im 10-%-Block, der die reine Kunststoffverarbeitung betrifft, liegt der Fokus auf den Maschinen und Anlagen, die den größten Energieeinsatz haben – gemessen in kWh/kg. Holm Riepenhausen: „Wir haben eine stringente Planung hinterlegt, gestaffelt nach Einsparungseffekt. Am besten wirken sie bei jenen Materialien, die physikalisch den höchsten spezifischen Energieverbrauch verursachen. Wir legen Wert auf energieeffiziente Technologien. Jede Investition bewerten wir nach einem TCO-Ansatz entsprechend der Effizienz. Wir streben jährlich einen Fortschritt von minus drei Prozent im spezifischen Energieverbrauch an. Das haben wir als realistisches Ziel verankert, und das sehen wir in unserem Maschinenbestand für die nächsten fünf bis zehn Jahre als möglich an.“
Auch die untergewichteten Stellgrößen innerhalb des10-%-Block – bestehend aus Betriebstechnik, innerbetrieblicher Logistik, IT und Administration – sind im Blick. „Ich möchte keinen Faktor hervorheben, aber für alle Faktoren des Energiemanagements gibt es einen Aktionsplan, wie wir vorwärtskommen. Im Vergleich zum 80-%-Block sind das Tropfen auf den heißen Stein, aber trotzdem muss man sich für den eigenen Einflussbereich kümmern. Denn jede Maßnahme hat letztlich nicht nur einen Emissions- sondern auch einen Kosteneffekt“, betont Holm Riepenhausen.
„Zur Stunde ist keine umfassende, seriöse CO2-Bilanzierung zu machen, weil die Haupteinflussgröße nicht durchgängig vorliegt. Trotzdem müssen wir unseren Kunden eine Entscheidungshilfe geben. Deshalb arbeiten wir zunächst mit Standardwerten und machen in einer Differenzbetrachtung ggf. die Vor- oder Nachteile einzelner Materialien transparent.“ Um diesen intransparenten 80-%-Block des CO2-Footprints will sich Holm Riepenhausen in einer konzertierten Aktion kümmern – mit Produktauslegung, Verfahrens- und Materialauswahl und einem Bewertungstool, das eine vergleichende Bilanzierung zulässt und hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen: „Wir warten nicht auf ein SAP-Tool, das vielleicht eines Tages als Industriestandard gelten kann. Wir wissen, wo wir uns hin entwickeln müssen – über ABC-Analysen, in der Eigenversorgung, in der Optimierung von Emissionen und Einsparung von Kosten. Eine energieeffiziente Produktion ist auch eine kostengünstige, und die ökologisch richtige Entscheidung ist auch die ökonomisch richtige“, ist er überzeugt, „neben der Kostenkalkulation braucht es in Zukunft auch eine CO2-Kalkulation.“
Tools zur Ermittlung des CO2-Footprint sind nützlich
„Deshalb braucht entlang der Wertschöpfung jedes Material, jede Maschine und jeder Prozess einen CO2-Footprint.“ Alle Lieferanten würden früher oder später verpflichtet werden, Footprint-Daten zur Verfügung zu stellen, prognostizieren die beiden Vorstände. Bis dahin würden aber Tools gebraucht, um Entscheidungen zu erleichtern. „Wir können nicht warten, bis alle Materialdaten vorliegen und bis sich der Systemwettbewerb bei den Tool-Anbietern entschieden hat“, bilanziert Holm Riepenhausen: „Es gibt bereits Tools am Markt, die zum Teil, analog dem Reach-System sehr aufwändig ausgestaltet sind. Trotzdem lösen sie das Problem nicht auf, dass der Material-Footprint nicht bekannt ist.“
Auch wenn die Verantwortlichen von Wirthwein in naher Zukunft weitere Entwicklungen am Anbietermarkt erwarten, haben sie entschieden, selbst ein Tool zur CO2-Bilanzierung aufzubauen. „Wir nutzen es zur Beratung unserer Kunden bei der Auswahl von Materialien, Verfahren und Logistikkonzepten. Denn unabhängig von der Nichtverfügbarkeit der Materialwerte kann ich ein Produktlayout vorschlagen, das zu einem CO2-optimierten Produkt führt. Was gut geht, ist, einzelne Name Grades oder die Herstellung an einzelnen Standorten miteinander zu vergleichen. Im Vergleich bekomme ich einen echten Delta-Wert, der auch für sich betrachtet haltbar ist“, hat Holm Riepenhausen analysiert, weshalb Wirthwein seinen Kunden die Bewertung über das Tool noch in diesem Jahr aktiv anbieten will: „Es wird nicht zertifiziert sein, aber eine wirksame Entscheidungshilfe.“
Gleich- und Übernahmeteile können die Bilanz verbessern
Auch eine Betrachtung über das reine Formteil hinaus kann Entscheidungen begünstigen. „Wir sollten auch auf jedes Werkzeug einen CO2-Aufkleber machen“, schlägt Marcus Wirthwein vor, „das würde auch Übernahmeteile aus Vorgängermodellen begünstigen.“ Viele Teile in Nachfolgemodellen der Automobilindustrie sähen bei unveränderten Anforderungen geringfügig anders aus und hätten hinsichtlich der CO2-Bilanz keinen positiven Effekt, führen aber zu Emissionen in der Entwicklung und Herstellung der Neuwerkzeuge: „Bei neuen Modellreihen werden zwar immer Gleichteilestrategien aufgesetzt; Aber warum muss ich Bewährtes jedes Mal neu konstruieren? Wenn ich Übernahmeteile aus demselben Werkzeug ein Modell länger einsetze, wie stellt sich der Footprint dann dar? Vielleicht müssen wir nicht nur auf die Bauteile einen CO2-Wert draufkleben, sondern auch auf die Werkzeuge.“
Trotz der umfänglichen Diskussion darüber ist ein Rezyklateinsatz in vielen unkritischen Anwendungen nach wie vor schwer durchsetzbar. Holm Riepenhausen: „Wir haben unseren Kunden Großversuche angeboten, in denen wir die Rezyklateinsatzquote bei manchen Produkten stufenweise, chargenweise und klar ausgewiesen langsam erhöhen, um zu sehen, ob mit der Einsatzquote die Qualität erhalten bleibt. Das Angebot hat kein Kunde angenommen.“ Und er weist auf einen Widerspruch hin: „Selbst der Einsatz von Produktionsrezyklat oder Umlaufmaterial aus unserer eigenen Produktion wird von manchen Kunden verboten, obwohl sie anderswo fordern, es müsste mehr Rezyklat eingesetzt werden. Da müssen noch eine Menge Vorbehalte ausgeräumt werden.“
Der Rezyklateinsatz scheitert noch immer an Vorbehalten und Bedenken
Selbstsicher geht Marcus Wirthwein noch einen Schritt weiter: „Wir wären sogar bereit, alle von uns hergestellten Teile zurückzunehmen – Fahrzeugkomponenten, Laugenbehälter, Gleisbefestigungen, Lüfterräder – wenn diese Kreisläufe organisiert werden könnten und funktionieren würden. Wir wissen genau, aus welchem Material wir auch vor langer Zeit welche Teile gemacht haben und wo sich das Rezyklat in welcher Aufbereitungsform daraus gut wieder einsetzen ließe.“ Marcus Wirthwein: „Der Kreislauf muss passen. Und der passt eben nicht. Noch nicht.“
Er stellt eine weitere Überlegung an: „Vielleicht müssen wir mehr das CO2 in den Fokus rücken. Gerade die OEM-Kunden müssen bereit werden, den Veränderungsprozess zugunsten der CO2-Bilanz mitzutragen und vielleicht ein anderes Material einzusetzen.“ Wenn alle Test- und Einsatzanforderungen so hoch blieben, wie sie sind, werde sich nichts ändern, stellt er fest und bietet ein Beispiel aus der Autozulieferung: „Unsere Fensterrahmenverkleidungen waren meist aus PA-GF15. Mittlerweile machen wir sie in PP. Beim 1:1-Wechsel auf PP schaffen sie die alten Klimawechseltests nicht, aber mit ein paar konstruktiven Eingriffen am Teil und ein paar sinnvollen Anpassungen der Testparameter bestehen sie den Test heute in PP.“
Ein Teil der Lösung ist mehr eigene Energieerzeugung
Neben der Reduktion des Energieeinsatzes will Wirthwein mehr grüne Energie selbst erzeugen. Holm Riepenhausen: „Die Kennzahl, um uns selbst zu verbessern, ist die Eigenerzeugung im Verhältnis zum eigenen Energieverbrauch. Daran können wir unseren Fortschritt messen, was sowohl die Erzeugung als auch die Einsparungen angeht. Da setzen wir uns klare Ziele – nicht aber für die CO2-Emissionen pro Euro Umsatz, weil wir das nicht für seriös halten. Der Anteil selbst erzeugter grüner Energie – Photovoltaik, Wind und Blockheizkraftwerke betreibt Wirthwein bereits – am Verbrauch soll bis 2035 von jetzt 20 auf mindestens 30 Prozent wachsen“, kündigt er an.
„Wenn wir wirklich ganz unabhängig und ganz grün werden wollen, geht das nur mit entsprechenden Energiespeichern, von denen wir noch mehr Kapazitäten schaffen müssen.“ Auch hier ist das Unternehmen aktiv geworden, wie Marcus Wirthwein erklärt: „Wir haben uns vor vielen Jahren am Start-up JenaBatteries beteiligt, das metallfreie Redox-Flow-Batterien als stationäre Großstromspeicher entwickelt. Die Verteilerplatten für diese Speicher stellen wir her, sowie Bipolarplatten für Brennstoffzellen. An den Wind- und Solarparks oder an Energieknotenpunkten lässt sich so erzeugernah Strom speichern und zeitversetzt einspeisen. Auch die Erzeugung grünen Wasserstoffs ließe sich so unterstützen.“ Holm Riepenhausen: „Wir erhöhen den Anteil eigenerzeugter Energie, sparen in der Produktion, und als Enabler stellen wir Produkte für Speicher her und tun aktiv etwas dafür, die Energiewende möglich zu machen. Das ist für ein Unternehmen unserer Größe ein ganz ordentlicher Ansatz.“ Irgendwelche Aktivitäten durch CO2-Projekte Dritter zu kompensieren, lehnt Marcus Wirthwein ab: „CO2-Zertifikate zu kaufen, bedeutet für mich Greenwashing.“
Nach wie vor schlägt der Preis die Ökologie
Bei allen Betrachtungen bleibt für Marcus Wirthwein in der Wertschöpfungskette eine große Diskrepanz: „Der Kunde sagt: Wenn der Preis passt, darfst Du unser Bauteil gerne in Deutschland mit besserer CO2-Bilanz herstellen, aber wenn der Preis nicht passt, liefere bitte aus dem Ausland. Irgendwann in der Preisverhandlung spielen Produktionsstandort und CO2 plötzlich keine Rolle mehr: Der Preis schlägt die Ökologie.“ Dies führe dazu, dass selbst Kunden in geografischer Nähe eines Wirthwein-Standortes nicht unbedingt von dort bedient werden. Marcus Wirthwein: „Wenn wir heute noch Kunden in Deutschland aus Kostengründen statt über den Zaun aus vielen hundert Kilometern Entfernung beliefern müssen, ist das für mich auch ein Greenwashing. Manche Produkte werden kreuz und quer durch die Republik gefahren, und dann wird behauptet, sie seien CO2-neutral. Damit retten wir die Umwelt nicht, definitiv nicht.“
Eine weitere Herausforderung sei der globale Wettbewerb, der entstanden sei durch verschiedene Zertifikate und unterschiedliche Kriterien in den einzelnen Ländern. Marcus Wirthwein: „Der eine Kunde wünscht diese Zertifizierung, der andere jenen Standard. Da braucht es eine echte Vergleichbarkeit mit einheitlichen Kriterien und einheitlichen Messverfahren!“
Leistbarer Ausbau erneuerbarer Energie und klare Preise für Verschmutzungen gefordert
Welche Rahmenbedingungen und Initiativen braucht es, um die Situation zu verbessern? Politik und Verbände müssten an einem Strang ziehen, auch Institutionen – SKZ, KUZ, Fraunhofer-Institute – müssten mitwirken, meint Marcus Wirthwein: „Mein Appell an die Bundesregierung: Wenn wir uns am CO2-Footprint orientieren, müssen wir diesen Willen auch irgendwo erkennen. Auf der einen Seite wollen wir CO2-Zertifikate und Rezyklateinsatz, auf der anderen Seite darf das nichts kosten.“
Holm Riepenhausen unterstützt die Ansicht: „Wir brauchen eine gute Gesetzgebung – branchenübergreifend, überregional oder sogar global – mit einer klaren Preisgestaltung für Verschmutzungen. Da darf es in der Umsetzung der Carbon-Leakage-Verordnung (BECV) keine Schlupflöcher geben, die die deutsche Industrie benachteiligt“ Mit dem Blick auf die erneuerbaren Energien fordert er: „Wenn einzelne Vorreiter dem Gesamtziel zu stark vorauseilen, führt das zu den ungesunden Verschiebungen. Es hilft nichts, wenn ich mich besonders grün darstellen will und Jahre früher als andere ausschließlich grüne Energie einsetzen will. Denn sie ist ja nicht ausreichend verfügbar. Die Umverteilung eines Gutes, das nicht ausreichend vorhanden ist, führt eben zu explodierenden Preisen, ohne den entsprechenden CO2-Effekt. Deshalb muss die Politik die Rahmenbedingungen so gestalten, dass der reale Ausbau der erneuerbaren Energien zeitlich und kapazitätsmäßig in etwa den politischen Zielen entspricht. Der Ausbau muss den Zielen folgen, Schritt halten und im zeitlichen Takt leistbar sein.“